Sellcruiting: Gute Job-Produkte für die Bewerber schaffen

| | ,

Recruiter müssen zu Verkäufern ihres Job-Produkts werden, meint Marius Luther von HeyJobs. Sie sind Gastgeber, die das Unternehmen repräsentieren.

In der HR-Branche findet seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel statt. Aus einem Arbeitgeber-, ist ein Arbeitnehmermarkt geworden. Babyboomer gehen in Rente und immer weniger junge Fachkräfte kommen auf den Arbeitsmarkt, was dazu führt, dass das Arbeitskräfteangebot in Deutschland in den nächsten zehn Jahren um Millionen von Menschen schrumpft. Auch COVID-19 hat diese Situation nicht verändert – die Anzahl der Mangelberufe steigt weiter und im Gesundheitswesen und im Handwerk ist der Fachkräftemangel schon heute das größte Problem von Firmen.

Für Personalverantwortliche heißt das: Recruiter müssen zu Verkäufern ihres Job-Produkts werden, zu Sellcruitern, um passende Mitarbeiter zu gewinnen und Unternehmensziele zu erreichen.

Der „Kandidaten-Kunde” ist König – von Vertrieblern lernen

Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Kandidaten und Personalentscheidern verliert in zahlreichen Branchen zunehmend ihre Gültigkeit. Neben dem demografischen Wandel erschweren auch Faktoren wie Fluktuation, weniger Auszubildende im Vergleich zu Studierenden sowie auch ein zum Teil durch Social Media verzerrtes Verständnis von Beruf und Arbeitsalltag die Besetzung von offenen Stellen. Fakt ist: Ein Umdenken im Recruiting ist erforderlich.

- Anzeige -
Banner English Edition HR JOURNAL

Für Recruiter lohnt sich daher ein Blick auf die Ideen und Strategien des Vertriebs. Denn letztlich verhält es sich im Recruiting ähnlich wie im Handel: Die Zielgruppe muss verstanden und, abgestimmt auf ihre Bedürfnisse, ein gutes Job-Produkt geschaffen werden. Denn wenn das Produkt nicht gut ist, wird auch das beste Marketing dieses nicht verkaufen können oder riskiert einen Umtausch.

Also müssen Recruiter als erstes ein gutes Job-Produkt mit klaren und ehrlichen USPs (unique selling proposition) schaffen, um Kandidaten-Kunden zu gewinnen und diese langfristig ans Unternehmen zu binden. Fragen Sie sich: Was zeichnet mein Unternehmen und diese Stelle aus? Machen Sie Ihre eigene kleine Marktforschung; befragen Sie zum Beispiel Ihre Mitarbeiter, warum diese gerne in Ihrem Unternehmen arbeiten und was für sie wichtig ist.

Das Jobinterview als Verkaufsgespräch

Ein unter Sales-Mitarbeitern geläufiges Instrument ist etwa das „Solution Selling“. Die Idee setzt auf Überzeugen statt Überreden. Das müssen auch Sellcruiter verinnerlichen. Der „Kunde“, in diesem Fall der Kandidat, muss erkennen, dass er das „Produkt“, den Job, dringend benötigt.

Anders als im „Push-Produktverkauf” erklärt man im „Solution Selling“ im ersten Schritt nicht die Vorteile des eigenen Produkts, sondern stellt Fragen, um herauszufinden, wo die Prioritäten des Gegenüber liegen. Diese könnten zum Beispiel lauten: “Was ist Ihnen im Job besonders wichtig?” oder “Wonach suchen Sie im nächsten Schritt?” oder “Was hat Ihnen im letzten Job besonders viel Freude bereitet?” Aus den Antworten kann der Sellcruiter schnell erkennen, worauf der Kandidat anspricht. Ist ihm/ihr die Work-Life Balance besonders wichtig oder ist es eher der Bonus am Ende des Monats? Je nach Antwort, kann der Sellcruiter nun das Job-Produkt entsprechend „verkaufen”.

Das Rad muss also gar nicht neu erfunden werden, sondern altbewährte Methoden können für die HR-Branche neu interpretiert und angewendet werden.

Transparent ist, wer nichts zu verbergen hat

Eine weitere Lehre aus dem Vertrieb: Niemand kauft gern die Katze im Sack. Ein Konzern, der diese Tatsache früh erkannt hat, war Deichmann, Europas größter Schuhhändler. Als erster Anbieter in Deutschland stellte das Unternehmen Schuhe außerhalb der Kartons und Verpackungen aus und gab diese nicht nur auf Nachfrage aus. Kunden wurden proaktiv aufgefordert, anzuprobieren, zu testen und zu kaufen.

Dieses „Rack Room Konzept“ lässt sich durchaus auch auf das Recruiting anwenden. Wege dazu können zum Beispiel ein Angebot zur Probearbeit vor Ort sein oder Bürorundgänge, gespickt mit interessanten Anekdoten aus dem Arbeitsalltag. Auch kurze Kaffeerunden mit aktuellen Mitarbeitern oder ein abendliches Kennenlernen können Transparenz schaffen und Interesse wecken. Es gibt keine besseren „Markenbotschafter“ für Bewerber als die eigenen Mitarbeiter. Oft halten Jobinteressenten und Mitarbeiter auch über den Tag des Kennenlernens hinaus noch Kontakt und tauschen sich aus – erst Recht in Zeiten von LinkedIn & Co. Ein weiterer Vorteil: Mitarbeiter begegnen Bewerbern auf einer anderen Ebene. Kandidaten können so noch von einer anderen Sichtweise eingeschätzt werden und der Personaler bekommt wertvolle Beobachtungen und Eindrücke dazu.

Das Momentum nutzen

Nach dem Bewerbungsgespräch ist vor der Entscheidung – und auch die liegt nicht länger allein aufseiten des Personalers. Unternehmen entscheiden sich zwar dafür, ein Angebot zu machen (oder eben nicht), aber die Entscheidung ob es zur Einstellung kommt, hängt dann noch einmal von unserem Kandidaten-Kunden ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass er unterschreibt, nimmt erfahrungsgemäß über die Zeit ab – erst recht, wenn zeitgleich vielleicht noch ein anderes attraktives Jobangebot eingeht.

Sellcruiter geben deshalb das Heft des Handelns nicht aus der Hand. Eine der letzten Fragen, die ich in jedem Vorstellungsgespräch stelle, lautet: „Gegeben wir würden Ihnen ein Jobangebot machen, würden Sie annehmen?” Bei Zögern frage ich direkt nach: „Was geht Ihnen denn noch durch den Kopf?” Dadurch entdeckt man oft spät im Gespräch noch extrem wichtige Themen, die der Kandidat bisher gar nicht erwähnt hat, zum Beispiel dass er sich unsicher ist, wie er Kita-Schließzeiten und Arbeitszeiten unter einen Hut bekommt. Äußert der Kandidat diese Bedenken nun, so haben Sie die Chance Lösungen anzubieten. Außerdem melden wir uns am gleichen Tag mit Feedback und versuchen bei positiver Entscheidung schnellstmöglich zur Unterschrift des Arbeitsvertrags zu kommen – entweder persönlich oder per e-sign Software mit einer elektronischen Unterschrift.

Fazit: Von Vertrieblern lernen – Sellcruiter sind Gastgeber

Sellcruiter sollten im gesamten Prozess nahbar sein. Keine ausführenden Maschinen, sondern Gastgeber, die das Unternehmen repräsentieren und den ersten Eindruck bestimmen. Dafür sollten sie Persönlichkeit zeigen, sich selbst vorstellen und ein offenes Gespräch auf Augenhöhe ermöglichen. Transparenz und Authentizität sind Schlüsselfaktoren, wie im Verkauf. Wichtig ist zudem, in guter Erinnerung zu bleiben und den Entscheidungsprozess befristen. Sellcruiter wissen: Das Gehalt allein ist nicht mehr entscheidend – Benefits, die persönliche Ebene und ein Umfeld für Selbstverwirklichung sind heutzutage das Zünglein an der Waage. Deshalb bewerben sich Unternehmen durch ihre Sellcruiter um die Kandidaten, nicht andersherum.

Marius Luther

Marius Luther ist CEO und Gründer von HeyJobs, einem Recruiting-Tech Unternehmen aus Berlin, das seinen über 1.500 Kunden durch Performance Marketing und selbstlernende Algorithmen hilft, offene Stellen zu besetzen. Zuvor entwickelte er – ebenfalls mit seinem jetzigen Co-Founder Marius Jeuck – die App Memorado, mit der Nutzer ihre kognitiven Fähigkeiten verbessern können.

Vorheriger Beitrag

Zoff via Zoom: Wie Sie Konflikte in virtuellen Teams lösen

Genau hingeschaut: 5 Aussagen zum Thema Gehalt

Folgender Beitrag