Lernende Arbeit: Den Kulturwandel im Unternehmen einleiten

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Lernen wird oft noch als Ausnahmesituation erlebt. Heute sollten Arbeit und Lernen so organisiert sein, dass Beschäftigte sie als lernende Arbeit empfinden und leben, meint Julia Siems, Partnerin bei von Rundstedt. Dies erfordert ein neues Verständnis von Wertschöpfung, das sich vom Modell der kurzfristigen Produktivitätsmessung löst.

„Weiterbildungsrepublik“, „Lebenslanges Lernen“ und andere Wortschöpfungen geistern schon seit einigen Jahren durch die deutsche Arbeitswelt. Bei nüchterner Betrachtung der betrieblichen Realität sind die meisten Unternehmen von einer echten Lernkultur noch weit entfernt. Drei Fehlannahmen spielen dabei eine wesentliche Rolle:

1. Die traditionelle Trennung zwischen Zeiten des Arbeitens und des Lernens könnte problemlos fortgeführt werden

Lernende Arbeit: Den Kulturwandel im Unternehmen einleiten
Twenty20/@michaelbtimm

Bis heute sind die Phasen des Arbeitens und des Lernens in der Wahrnehmung von Führungskräften und Mitarbeitenden strikt voneinander getrennt. Das Lernen wird als Ausnahmesituation erlebt, sei es in der kompakten Form eines zweitägigen Seminars oder im größeren Rahmen einer berufsbegleitenden Fortbildung mit Phasen der Freistellung und des Einsatzes der eigenen Freizeit. So wichtig diese als extern wahrgenommenen Formate auch in Zukunft bleiben werden, der Fokus von Unternehmensleitung und Führungskräften sollte in der regulären Arbeitszeit liegen, in die das berufliche Lernen flexibel integriert werden kann.

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Dieser Ansatz unterscheidet sich qualitativ vom Modell „70-20-10“, das in den frühen 2000ern in der Personalentwicklung Einzug gehalten hat. Es erfreute sich großer Popularität, obwohl eine kritische Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Umsetzung und der Qualität der Ergebnisse kaum stattgefunden hat.

Vielmehr geht es heute darum, Arbeiten und Lernen als integrierte Prozesse in den Unternehmen so zu organisieren und umzusetzen, dass sie letztlich von den Beschäftigten als lernende Arbeit empfunden wird und aus eigenem(!) Antrieb gelebt werden. Dies erfordert aber zugleich ein neues Verständnis von Wertschöpfung, das sich vom Modell der kurzfristigen Produktivitätsmessung löst und mittelfristige Perspektiven einbezieht.

Dies soll am Beispiel von zwei Unternehmen verdeutlicht werden. Das erste Unternehmen setzt ausschließlich auf Effizienz und kann den Output im Vergleich zum Vorjahr deutlich steigern. Der Wettbewerber hat zwar auch die Effizienz im Blick, legt aber den Schwerpunkt auf die qualitative Weiterentwicklung seines Leistungsportfolios. So werden die Mitarbeitenden im Vertrieb und in der Produktentwicklung motiviert und geschult, im Gespräch mit den Kunden noch stärker nach Möglichkeiten zu suchen, den Kundennutzen zu erhöhen. Arbeiten und Lernen gehen dabei fließend ineinander über. Dafür nimmt das Management bewusst eine moderate Umsatzentwicklung in Kauf, um mit einem optimierten Produkt- und Dienstleistungsportfolio die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu stärken.

2. Der Veränderungsdruck von neuen Technologien würde automatisiert Lernimpulse erzeugen

Mann arbeitet am Tablet
Envato/nd3000

Spätestens seit der Veröffentlichung von ChatGPT (Open AI) im November 2022 ist die revolutionäre Kraft der Künstlichen Intelligenz auf die Arbeitswelt deutlich geworden. Zwar ist das Interesse vieler Beschäftigten groß, den Prompt auszuprobieren und von seinen niedrig hängenden Früchten zu profitieren. Allerdings hat auch ChatGPT in den meisten Unternehmen keine Weiterbildungswelle in Richtung eines tieferen Verständnisses von Maschinellem Lernen und Data Science ausgelöst.

An den direkten Kosten für Weiterbildungskosten kann es nicht liegen, da viele Lernangebote von KI-Unternehmen und Universitäten kostenlos genutzt werden können. Anders als in Schwellenländern wie Indien, in denen gerade junge Erwachsene in großer Zahl diese digitalen Weiterbildungsangebote in der Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg durch Bildung nutzen, hält sich das Interesse auch bei jüngeren Arbeitnehmenden in der Bundesrepublik in engen Grenzen.

Da man sich hierzulande immer noch stark auf formalisierte und staatlich regulierte Bildungswege verlässt, sollten Unternehmen ihre Beschäftigten von den direkten und indirekten Vorteilen einer eigenverantwortlichen und selbstgesteuerten Weiterbildung überzeugen und gleichzeitig Lernräume im betrieblichen Alltag schaffen, die sich mehr am individuellen Mitarbeitendenprofil als an der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Mitarbeitendenkategorie wie Blue Collar orientieren.

Mit dem rasanten Einzug der KI in die Weiterbildung wird es erstmalig möglich sein, wirklich individualisierte Lernpfade zu vertretbaren Kosten zu gestalten. Wenn es nun noch gelingt, die Arbeitnehmervertretung als selbstbewusste Mitgestalter zu gewinnen, kann die lernende Arbeit schrittweise im Unternehmen umgesetzt werden. Hier müssen zunächst durch anspruchsvolle Verhandlungen tragfähige Kompromisse gefunden werden.

Der Betriebsrat wird sich in der Regel ein Maximalpaket wünschen, bei dem das Lernen ausschließlich in der bezahlten Arbeitszeit stattfinden soll und mangelndes Qualifizierungsengagement keinesfalls sanktioniert werden darf.

Seitens des Arbeitsgebers sollte hier deutlich argumentiert werden, dass neben dem deutlich höheren Aufwand des Unternehmens an direkten und indirekten Kosten auch von den Beschäftigten ein echtes Engagement und ein wöchentlicher Eigenanteil von beispielsweise zwei Stunden wöchentlicher Freizeit zur Sicherung der langfristigen Beschäftigungsfähigkeit verlangt werden muss.

Arbeitsplatzsicherheit erfordert Anstrengungen von beiden Seiten. Lernende Arbeit braucht nicht nur positive Rahmenbedingungen, sondern muss auch von den einzelnen Beschäftigten getragen werden. Den Beschäftigten muss bewusst sein, dass ihr Qualifizierungsengagement einen entscheidenden Einfluss auf ihre Beschäftigungsfähigkeit hat. Mangelnde Weiterbildungsbereitschaft führt dazu, dass sie mittelfristig nicht mehr über die notwendigen Qualifikationen zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügen und damit selbst ihren Arbeitsplatz gefährden.

3. Staatliche Fördermittel wären der entscheidende Hebel für eine lebendige Lernkultur von Unternehmen

Euro-Geldscheine
Envato/duallogic

Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren mit einer Reihe von Gesetzen wie z. B. dem Qualifizierungschancengesetz und Instrumenten wie dem Qualifizierungsgeld (seit 1. April 2024) die Rahmenbedingungen für eine aktive Lernkultur deutlich verbessert. Allerdings zeigen die Abrufzahlen bei der Bundesagentur für Arbeit, dass sich das Interesse von Unternehmen und Beschäftigten noch in engen Grenzen hält. Seitens der Politik hatte man gehofft, dass gerade die umfassende finanzielle Förderung der Weiterbildung in KMU zu einer echten Lernkultur führen würde.

Hier wurde viel über die aufwändige Antragstellung als wesentliche Ursache für die Zurückhaltung der Unternehmen diskutiert. Entscheidender dürfte die in vielen Unternehmen vorherrschende Einstellung des Managements sein, das Lernen zwar immer noch als wünschenswerte Möglichkeit, aber – im Gegensatz zur unmittelbaren Arbeitsleistung der Beschäftigten – nicht als unbedingt notwendige Handlung ansieht.

Um dieses kurzfristige Denken zu überwinden, bedarf es der gemeinsamen und beharrlichen Anstrengung von Politik, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und weiteren Akteuren in den Regionen, wie z. B. Transformationsnetzwerken und Weiterbildungsverbünden.

Lernende Arbeit: Finanzielle Lasten teilen

Vielversprechend sind hier erste Pilotprojekte mittelständischer Unternehmen, die mit Unterstützung externer Partner aus den Bereichen der Karriereberatung und Weiterbildung virtuelle Qualifizierungshubs in einem Umkreis von ca. 50 km betreiben. So können die finanziellen Lasten geteilt werden und gleichzeitig besteht die Perspektive, Mitarbeiter-Ressourcen im Verbund optimal zu teilen – zum doppelten Nutzen von Unternehmen und Beschäftigten.

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Foto Julia Siems

Julia Siems ist Partnerin und „Head of People Development and Head of Platform Management" bei der Unternehmensberatung von Rundstedt. Julia Siems begleitet seit rund 20 Jahren Menschen bei der beruflichen Neuorientierung und berät sie zu ihrer individuellen und eigenverantwortlichen Lernreise. Foto: Ulrich Schepp

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